Psyche
Psychische Belastung der Bluterkrankheit
Neben allgemeinen Herausforderungen, die mit dem Alter auftreten, bringt die Hämophilie oft zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Viele ältere Menschen mit einer chronischen Erkrankung leiden öfter als andere an Depressionen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Menschen mit Hämophilie haben in der Regel eine lange Krankheitsgeschichte. Chronische Gelenkschmerzen, weitere gesundheitliche Probleme und wiederholte Krankenhausaufenthalte stellen eine große Belastung dar und wirken sich auf viele unterschiedliche Aspekte des Lebens aus.
Auch das Miteinander mit Partner, Freunden oder Verwandten ist nicht immer unbeschwert und einfach. Doch wer sich mit seinen Schwierigkeiten auseinandersetzt und bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, wird auch diese Hürde meistern.
Älterwerden mit Hämophilie ist ein Prozess der Selbstakzeptanz, der manchmal aber auch von unangenehmen Emotionen wie Wut, Furcht, Frustration, Trauer und Sorge begleitet wird – vielleicht kennen Sie das auch. Einige Hämophile haben ein vermindertes Selbstwertgefühl. Dies ist oft eine Folge körperlicher Einschränkungen in der Kindheit und der Wahrnehmung, sich von anderen zu unterscheiden.
Mit zunehmendem Alter führen der Kräfteverlust und die Verschlimmerung der Gelenkerkrankung zu einem erhöhten Bedarf an medikamentöser Behandlung und Krankenhausaufenthalten. Auch erhöhte Sturzgefahr sowie Schwierigkeiten bei Alltagsverrichtungen wie Ankleiden, Baden und Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel beeinträchtigen das Leben vieler älterer Patienten. Der Verlust der Unabhängigkeit, als Folge dieser Veränderungen, kann zur Belastung der psychischen Gesundheit beitragen. Die Lebensqualität bei älteren Hämophilen kann im Vergleich zu nicht hämophilen Vergleichsgruppen deutlich eingeschränkt sein.
Erwerbstätigkeit und finanzielle Situation
Zu den körperlichen und psychischen Belastungen durch die Bluterkrankheit kommen oftmals auch finanzielle Probleme hinzu. Vielleicht dreht sich ja auch bei Ihnen alles um Ihre Erwerbstätigkeit, die Berufsunfähigkeitsversicherung und die Suche nach finanzieller Unterstützung. Dann sind Sie nicht allein: Eine Anstellung zu finden und bis ins höhere Alter berufstätig zu bleiben, ist für Hämophilie-Patienten wegen der körperlichen Einschränkungen und der häufigen Arztbesuche mitunter eine Herausforderung.
Sozialarbeiter können einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Sie zum Beispiel bei der Beantragung von Sozialleistungen unterstützen. Genauso sind sie auch darauf vorbereitet, Menschen zu öffentlichen oder privaten Hilfsprogrammen zu beraten, denen Arbeitslosigkeit oder Verarmung droht. Bei Bedarf helfen sie Ihnen sogar beim Ausfüllen von Anträgen und anderen Dokumenten.
Beziehung und Familie
Im engen Kreis der Bekannten und Verwandten können für Hämophile unter Umständen schwierige Situationen entstehen.
Viele Männer mit Hämophilie leiden aus verschiedensten Gründen unter sexuellen Funktionsstörungen – z. B. aus Furcht vor Gelenkschmerzen während des Geschlechtsverkehrs oder wegen Depressionen und anderen psychischen Problemen. Ihre Partnerinnen oder Partner sind gleichzeitig ihre Betreuungspersonen, sodass mit zunehmendem Alter eine schwer zu steuernde Familiendynamik entstehen kann. Alle diese familiären Herausforderungen sollten Sie mit Ihrem Behandlungsteam besprechen: Es gibt viele Möglichkeiten, um die mit familiären Fragen verbundenen Risiken und Ängste zu bewältigen.
Selbstwertgefühl
Viele von ihnen – Sie auch? – sind in höherem Alter fähig, die Lektionen, die sie während ihres Lebens mit einer Blutgerinnungsstörung lernen mussten, rückblickend weiter zu verarbeiten und ihre Erfahrungen und ihr Wissen an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben.
Inzwischen sind erfreulicherweise auch die Hämophilie-Behandlungszentren immer besser ausgestattet und können Unterstützung für alle Aspekte des Lebens bieten. Es werden auch Studien mit dem Ziel durchgeführt, neue Erkenntnisse über die körperlichen und psychischen Probleme älterer Hämophiler zu gewinnen.
Dem steht allerdings gegenüber, dass die Lebensqualität durch Faktoren wie eingeschränkte Beweglichkeit, soziale Vereinsamung und Depression mitunter negativ beeinträchtigt wird. Daher wird für die zukünftige Gesundheitsfürsorge älterer Hämophiler eine angemessene Unterstützung durch Krankenschwestern, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter immer wichtiger.
Auch für älter werdende Hämophile gelten die gleichen Stress-auslösenden Faktoren wie für alle anderen Personen. Jedoch kommen zusätzlich körperliche Einschränkungen und Behinderungen hinzu, die sich im Alter verstärken. Die Auslöser für Stress sind daher breit gefächert: Sie umfassen unter anderem Beziehung, Familie, Berufstätigkeit, die finanzielle Situation und chronische Schmerzen.
Die natürliche Reaktion des Körpers auf Stress besteht in der Ausschüttung von Cortisol und anderen Stresshormonen, wodurch das Risiko für andere gesundheitliche Probleme, wie Depressionen und Herzkrankheiten, steigt1.
Da Stress sowohl zu körperlichen als auch zu psychischen Problemen führen kann, müssen wirkungsvolle Strategien für die Stressbewältigung und -vermeidung gefunden werden. Psychotherapie, psychotrope Medikamente, Zeitmanagement-Training, Entspannungsübungen und regelmäßiger Sport können helfen. Solche Maßnahmen bewirken nachweislich eine seelische und funktionale Besserung2.
Das Team eines Hämophilie-Zentrums wird Ihre Ängste und Bedenken ernst nehmen und sich bemühen, ein vertrauensvolles Verhältnis zu Ihnen aufzubauen. Es kann Ihnen Methoden zur Stressbewältigung an die Hand geben, beispielsweise individuelle Programme für gesunde Ernährung, Tipps zu gesunden Schlafgewohnheiten und auf Sie zugeschnittene Fitnesspläne erstellen.
Eine große Herausforderung ist der Umgang mit der eigenen Krankheitsgeschichte: Viele Hämophile erinnern sich rückblickend an die Schwierigkeiten, denen sie sich in Bezug auf soziale Anerkennung, Berufstätigkeit und Karriere, eheliche und familiäre Beziehungen stellen mussten. Schwierigkeiten beeinflussten vielleicht sowohl ihr körperliches als auch ihr seelisches Wohlbefinden.
Entscheidend ist es jetzt, dass Sie nicht in Selbstmitleid baden, sondern stattdessen stolz darauf sind, wie weit Sie trotz Ihrer Krankheit gekommen sind. Ihr Hämophilie-Behandlungsteam kann Ihnen bei diesem Umdenkprozess helfen! Außerdem leisten die Spezialisten entscheidende Beiträge zur Verlängerung der Lebensdauer und helfen Ihnen, Ihren Allgemeinzustand zu stabilisieren.
Zudem weisen gut versorgte Patienten eine geringere Arbeitslosenquote, bessere emotionale Gesundheit und höhere familiäre Stabilität auf. Zudem sind sie besser in der Lage, sich selbst zu versorgen.
Sozialarbeiter können in den Hämophiliezentren eine wichtige Rolle spielen, denn sie beurteilen die Fähigkeit eines Menschen, mit den Folgen seiner Blutgerinnungsstörung zurechtzukommen. Sie unterstützen Sie und Ihre Familie, indem sie Lösungen für Probleme entwickeln, die im häuslichen Bereich oder am Arbeitsplatz des Patienten entstehen. Vor allem bieten sie jedoch Beratung und soziale Unterstützung an, wodurch Angst und Depressionen gemildert werden können.
Mit Unterstützung der Sozialarbeiter finden Sie eine Fülle an Möglichkeiten, Ihr Leben erfolgreich zu meistern und den Blick nach vorne zu richten.
Das höhere Lebensalter von Hämophilen führt zu neuen Erfahrungen: wenn beispielsweise Ihre Kinder erwachsen und selbstständig werden oder wenn Sie selbst Großeltern werden und in den Ruhestand eintreten. Diese „Lebensübergänge“ werden häufig wie bei Gesunden von Veränderungen der Aufgaben und Zuständigkeiten innerhalb der Familie begleitet.
Selbstwertgefühl im Alter
Während manche Männer mit Hämophilie Wert darauflegen, selbstverantwortlich zu handeln, und stolz darauf sind, ein relativ normales Leben zu führen, verlassen sich andere in so hohem Maß auf ihre Partner, dass sie von ihnen als ihren Betreuungspersonen abhängig sind. Diese Partner spielen eine wichtige unterstützende Rolle in der täglichen Versorgung, wodurch sich ihre Partnerrolle mit der Rolle eines „Krankenpflegers“ vermischt. Eines der Probleme, mit denen die Partner oder Ehefrauen Hämophiler konfrontiert werden, ist die Aufgabe, die ihnen bei der Behandlung der Krankheit und der Vermeidung von Komplikationen zukommt.
Viele hämophile Männer bleiben auch in höherem Alter sexuell aktiv. Die meisten stellen fest, dass ihnen ihre Sexualität psychisch und körperlich gut tut. Manche ältere Hämophile sind jedoch der Meinung, dass sie wegen ihrer Gelenkerkrankung auf Sex verzichten müssen. Manche leiden wegen Depressionen oder der Nebenwirkungen von Antidepressiva unter sexuellen Funktionsstörungen.
Glücklicherweise steht eine Reihe von Bewältigungsmechanismen und Behandlungsstrategien zur Verfügung, die ein befriedigendes Sexualleben ermöglichen können.
Wie viele andere älter werdende Hämophile sehen Sie sich vielleicht auch mit einigen körperlichen Aspekten des Alterns konfrontiert. Diese können sich auf wichtige Teilbereiche Ihres Lebens auswirken, darunter auch Beruf und Karriere.
Die meisten Männer mit Hämophilie gehen einem Beruf nach. Einige erinnern sich allerdings aus früher Kindheit noch an die Überzeugung ihrer Eltern, dass ihre Fähigkeit zu „funktionieren“ und sich normal zu entwickeln durch die Blutgerinnungsstörung erheblich beeinträchtigt sein würde.
Ältere Männer mit Hämophilie berichten, dass die Berufstätigkeit trotzdem zu ihrem sozialen und psychologischen Wohlbefinden beigetragen hat. Dennoch sind die beruflichen Laufbahnen von Hämophilen oft kürzer als die der allgemeinen Bevölkerung, da die Berufstätigkeit von Krankenstand, häufigen Arztterminen und Behinderung beeinflusst werden kann.
Einige hämophile Männer überschreiten ihre persönlichen Grenzen und versuchen, so lange wie möglich zu arbeiten. Der unfreiwillige Verlust des Arbeitsplatzes und die damit einhergehenden Veränderungen des sozialen und finanziellen Status können sehr entmutigen.
Es ist wichtig, dass Sie sich Ihrer Rechte am Arbeitsplatz bewusst sind. Dies betrifft unter anderem flexible Arbeitszeiten, Pausenzeiten und die richtige Ergonomie des Arbeitsplatzes.
> Informationen zum Thema “Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“
Der Schwerbehindertenausweis: Vorteile für Menschen mit Hämophilie
Für Schwerbehinderte sieht der Gesetzgeber eine Reihe sogenannter „Nachteilsausgleiche“ vor, etwa Vergünstigungen im Personennah- und –fernverkehr sowie bei Freizeitaktivitäten. Sie können aber nur genutzt werden, wenn ein Mensch tatsächlich als schwerbehindert gilt – und dies wird durch einen Ausweis dokumentiert. Schwerbehindert ist ein Mensch, wenn bei ihm ein GdB (Grad der Behinderung) von wenigstens 50 vorliegt. Dabei kann die Behinderung durch Unfall, angeborene oder erworbene Krankheit eintreten. Die meisten Menschen mit einer schweren Form der Hämophilie mit einem Faktor unter einem Prozent haben einen GdB von mindestens 50 und haben somit ein Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis.
Wenn Sie sich über das Thema weiter informieren wollen, sprechen Sie Ihren Arzt darauf an.
> Weitere Sozialleistungen finden Sie im Kapitel „Sozialrechtliches“
Bleiben Sie aktiv für mehr Zufriedenheit
Viele ältere Männer mit Hämophilie sind gesellschaftlich aktiv und übernehmen ehrenamtliche oder bezahlte Tätigkeiten.
Sozialarbeiter sind in der Lage, Ihre Pläne für Beruf und Karriere zu unterstützen und zu fördern. Medizinische Fachkräfte eines Hämophilie-Zentrums können ebenfalls an Ihren Karriereentscheidungen beteiligt werden und bei Bedarf professionelle Berufsberater hinzuziehen.
Depressionen sind unter Menschen mit chronischen Krankheiten häufig anzutreffen. Bei älteren Männern mit Hämophilie geht die Depression möglicherweise auf häufige medizinische Probleme, schmerzhafte Gelenkerkrankungen oder mangelndes Selbstbewusstsein zurück. Mangelnde soziale Unterstützung und Arbeitslosigkeit erhöhen das Risiko für eine Depression3.
Eine Depression ist laut WHO definiert als „weit verbreitete psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interesselosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühle und geringes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen gekennzeichnet sein kann. Sie kann über längere Zeit oder wiederkehrend auftreten und die Fähigkeit einer Person zu arbeiten, zu lernen oder einfach zu leben beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall kann eine Depression zum Suizid führen. Milde Formen können ohne Medikamente behandelt werden, mittlere bis schwere Fälle müssen jedoch medikamentös bzw. durch professionelle Gesprächstherapie behandelt werden“4.
Sprechen Sie mit Ihrem Arzt, wenn Sie oder Ihre Familie Symptome einer Depression bei sich beobachten.
1 Wang J, Psychol Med. 2005;35(6):865-71
2 Dimsdale JE, J Am Coll Cardiol. 2008;51(13):1237-46
3 Standish DS, National Hemophilia Foundation: Orientation Manual for Healthcare Professionals 2001; 80-87
4 Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), Regionalbüro Europa; www.euro.who.int/de